Choke ziehen, Totpunkt finden, antreten, hoffen, dass der Kickstarter dir nicht das Bein zertrümmert und schon brabbelt der Einzylinder los. Diese Art des Anlassens war jahrzehntelang der Standard für Motorräder rund um die Welt. Doch die Zeiten haben sich geändert. Denn auch in der Motorradwelt haben sich die elektrisch angetriebenen Modelle auf dem Markt festgesetzt. Und in der sehr beliebten 125er-Klasse haben wir uns das Niu RQi Sport angeschaut. Denn mit einer einfachen Zusatzausbildung kann auch jeder Autofahrer das E-Motorrad fahren.
- Casa Casi: Elektromobilität und Motorräder – wird das noch was?
Niu RQi Sport – Erwachsener als gedacht
E-Antriebe sind aktuell vor allem in Rollern und kleinen Motorrad-Modellen verbaut. Das liegt wie beim Auto am Dreiklang des Kompromisses zwischen Leistung, Reichweite und Preis. Hier will Niu die goldene Mitte für den urbanen Biker geschaffen haben. Mit gut 100 km Reichweite, 108 km/h Spitze und einem Preis von knapp 7.500 Euro geht es in den Test.
Auf den ersten und auch auf den zweiten Blick steht die RQi Sport sehr erwachsen am Straßenrand. Man könnte hier auch eine deutlich leistungsstärkere Maschine unter dem sportlich und kantig designten Kleid vermuten. Die fette Upside-Down-Gabel und die massiven Schwingen am Hinterrad zeigen, dass man vom Fahrwerk so einiges erwarten darf. Doch es geht noch etwas weiter, mit anerkennendem Kopfnicken der Passanten: Brembo-Bremsen, ein modernes Display als Tachoeinheit und ein schickes Ringlicht im Frontschweinwerfer lassen erste erstaunte Gesichter zurück.

Die Ausfahrt: Antritt ist nicht alles
Und der Eindruck setzt sich bei der ersten Probefahrt auf der Niu RQi Sport auch auf der Straße fort. Entgegenkommende Motorradfahrer grüßen standesgemäß. Ein untrügliches Zeichen, dass man es mit einem zumindest äußerlich erwachsenen Motorrad zu tun hat.
Und beim ersten Antritt aus dem Hof ist man vom Punch auch noch kurz überrascht. Denn obwohl man sich in der 125er-Klasse befindet, gibt es zumindest einen sanften Tritt ins Kreuz. Anders sieht es aus, wenn man die Launch-Control aktiviert. Denn dann sprintet die Niu RQi Sport mit richtig Dampf in den Bereich um 50 km/h. Im Stand muss man dafür einen unscheinbaren Taster am rechten Lenkerende tippen, den linken Bremshebel ziehen und das „Gas“ rechts voll aufdrehen. Lässt man dann die Bremse los, zieht der Motor mit voller Power. Das macht mächtig Spaß, saugt kräftig am Akku und es gibt nach jedem dieser Kickstarts eine „Cool-Down-Phase“, die im Display mit einem Countdown vermerkt wird.

Hat man genug Autos und dicke Harleys in der Stadt an der Ampel abgezogen, geht es aufs Überland und dort zeigt sich die limitierte Power dann doch. Denn oberhalb von 60 bis 70 km/h wird es erst weniger druckvoll und dann recht zäh. Flinkes Überholen auf der Landstraße sollte man sich also gut überlegen und auch das Geschwindigkeitslimit der Maschine im Blick behalten. Wir haben es auf der Autobahn auf 108 km/h Spitze gebracht. Sie ist also, wie es der Hersteller auch konzipiert hat, eher ein Stadtflitzer als ein Kilometerfresser.
Zwischen Präzision und Todesangst
Power ist aber nicht alles und in der Stadt spielt Nius RQi Sport seine wahre Stärke aus: die Wendigkeit, die flotte Gangart und die Präzision in der Handhabung. Denn das E-Motorrad ist nicht nur spritzig, sondern auch sehr einfach zu fahren. Die Lenkerenden fallen beim Aufsitzen wie von allein in die Hände und das Handling gelingt trotz der weit über 150 Kilo Gewicht leichtfüßig. Hier kommen auch Umsteiger vom Auto (seit einiger Zeit mit der B196-Erweiterung einfach möglich) nicht in Bedrängnis. Das gilt auch fürs Ankern. Denn die Brembo-Scheibenbremsen verzögern solide und vor allem durch ABS sicher und einsteigerfreundlich.

Doch trotz des tollen Fahrwerks und der guten Bremsen gibt es auch Kritik an der Niu RQi Sport. Die Spiegel sind ein wenig zu kurz für breitere Fahrer und die Sicht etwas eingeschränkt. Dazu gibt es aber ein Software-Gimmick, das man immer im Blick halten sollte. Ab einem Akkustand von unter 17 Prozent reduziert die Maschine automatisch die Höchstgeschwindigkeit auf unter 50 km/h. Speziell über Land oder auf der Autobahn sollte man diesen Energiesparmodus einrechnen. Wenn du also nicht plötzlich zum Verkehrshindernis für 40-Tonner und schnelle Traktoren werden willst, hältst du die Akkus besser bei Laune.
Akkus und Laden
Die beiden Akkus in der Niu RQi Sport sind unter der Tankattrappe versteckt und echte Kavenzmänner. Die Klötze wiegen jeweils 23 Kilo und sind herausnehmbar. Das kann für kleine Menschen oder eher zierliche Personen ein echtes Problem darstellen, da sie nicht nur über den Rand des „Tanks“ gehoben werden müssen, sondern auch noch recht lang sind. Damit hebst du die Akkus mindestens auf Schulterhöhe an. Bei einem solchen Gewicht ist das kein Spaß.

Zum Glück kannst du die Energieriegel aber auch im Motorrad laden. Dafür brauchst du das Ladekabel inklusive eines dicken Adapters, der ebenso einiges auf die Waage bringt. Einmal von 0 auf 100 Prozent dauert in diesem Setup aber satte 7 Stunden. Nimmst du die Akkus raus und lädst sie mittels Ladeadapter und Splitter zu Hause, reduziert sich die Ladezeit auf 4 Stunden. Beides kein Ruhmesblatt für Niu. Die Reichweite von 100 km ist jedoch realistisch. Zumindest im dynamischen Fahrmodus. Stellst du auf Sport um und spielst etwas zu viel mit Launch-Control und Sprintwettbewerben an der Ampel, reduziert sich die Reichweite entsprechend auf 70 bis 80 km.
Fazit zur Niu RQi Sport
Die Niu RQi Sport ist ein mutiges E-Motorrad und hat zweifellos seine Stärken. Eine tolle Ausstattung, ein spritziges Fahrgefühl und ein tolles Fahrwerk für die Stadt sind einige davon. Gimmicks wie die Launch-Control und die unterschiedlichen Möglichkeiten zum Laden sind ebenfalls lobend zu erwähnen. Käufer müssen sich aber bewusst sein, dass sie für den städtischen Raum entwickelt wurde und die Autobahn oder die Sonntagstour nicht ihr natürliches Habitat sind.
- Unerträglicher Lärm: Wie laut darf ein Motorrad eigentlich sein?!
Wer das berücksichtigt, bekommt aber ein erstaunlich erwachsenes E-Motorrad mit vielen Spielereien und technischen Finessen. Der Preis von 7.500 Euro ist dabei wohl der größte Hemmschuh. Dafür bekommt man im Verbrennerbereich bereits Motorräder mit dreimal so viel Leistung und Reichweite. Aber eben ohne umweltfreundliche Technik, Launch-Control und dem Elektro-Punch ab Drehzahl 1.
Pros der Niu RQi Sport
- flüsterleise
- starker Antritt
- tolle Ausstattung
- souveränes Fahrwerk
- erwachsener Auftritt
Contras der Niu RQi Sport
- wenig Reichweite
- begrenzte Power ab 70 km/h
- recht teuer
