Nicht nur Unternehmen wie OpenAI oder NVIDIA dürften die Ankunft von DeepSeek R1 wie eine Detonation wahrgenommen haben, die scheinbar aus dem Nichts explodiert und alle in atemlose Verwirrung stürzt. Und die Schockwellen sind gewaltig – man denke nur an NVIDIAs Börsenverlust von 600 Milliarden US-Dollar, der wie ein seismisches Nachbeben wirkt.
Das Rennen beginnt gerade erst
Erst jetzt, nachdem sich der initiale Staub langsam legt, werden die Konturen sichtbar. Was zurückbleibt, ist die Erkenntnis, dass hier ein neuer Player den Markt betreten hat. Unerwartet, disruptiv und mit einer Präsenz, die sich nicht mehr ignorieren lässt. Die Branche beginnt gerade erst zu begreifen, dass diese neue Größe kein kurzfristiges Phänomen ist. Hier betrat ein dauerhafter Akteur das Feld, der mindestens mal munter mithalten wird.
Doch es wird deutlich: Die Annahme, die US-Giganten im Silicon Valley würden unter sich ausmachen, wer die KI-Krone trägt, war ein folgenschwerer Trugschluss. Plötzlich mischt China mit am Tisch – ausgerechnet ein Land, das laut Exportbeschränkungen gar keinen Zugang zu modernster KI-Hardware haben dürfte. Ob DeepSeek R1 mit älteren Chips trainiert wurde oder doch westliche Technologie unter dem Radar ins Land gelangte, bleibt unklar.
Fakt ist: Der KI-Markt bewegt sich im Eiltempo. DeepSeeks effizientere Trainingsmethoden werden bereits adaptiert. Und Open-Source-Lösungen – nicht nur von DeepSeek, sondern auch von anderen Playern jenseits von GPT – befeuern die globale Entwicklung. Wer heute mit Expertise, Ressourcen und Kapital einsteigt, beginnt nicht mehr bei Null, sondern springt direkt ins Rennen der Gegenwart.
Jemand, der heute Know-how, Hardware und Geld zusammenträgt, muss nicht an dem Punkt ansetzen, an dem OpenAI vor einigen Jahren loslegte, sondern springt mitten rein. Das lässt mich an sowas wie ein 100-Meter-Rennen denken. Die ersten sind gerade erst raus aus dem Startblock und der Startschuss hallt noch nach in unseren Ohren. Es sind noch 98 Meter zu rennen und sind uns ganz sicher: Wir haben längst noch nicht alle Protagonisten gesehen!
Die EU spielt eine wichtige Rolle in diesem KI-Rennen
Deshalb halte ich das ständige „Europa ist abgehängt“-Mantra für fehl am Platz. DeepSeek zeigt eindrucksvoll, dass auch Außenseiter sich überraschend an die Spitze kämpfen können. Das wäre unmöglich, wenn die Rahmenbedingungen es nicht zuließen. Europa macht sich da oft kleiner, als es ist. Immerhin haben wir mit DeepL SE ein KI-Unicorn aus Deutschland, das weltweit erfolgreich ist. DeepL wird von über 100.000 Unternehmen – inklusive uns – genutzt und stellt selbst Google in Sachen Übersetzungsqualität in den Schatten.
Ein weiteres Beispiel ist Aleph Alpha, das sich gezielt auf Behördenanwendungen konzentriert und jüngst eine Partnerschaft mit AMD eingegangen ist. Oder Mistral AI aus Frankreich: Erst 2023 gegründet, zählt es bereits zu den führenden europäischen Akteuren im LLM-Bereich. Auch Mistral setzt übrigens auf Open Source. Es gibt sie also, die europäischen Hoffnungsträger – und mit RocketPhone könnte schon bald ein weiteres dazugehören.
Dieses UK-basierte Unternehmen hat im letzten Monat erst 10,5 Millionen US-Dollar durch Crowdfunding eingesammelt und CEO Muj Choudhury fühlt sich ebenfalls motiviert durch den Erfolg von DeepSeek. So sagt er aktuell im Interview:
Der Aufstieg von DeepSeek zeigt, dass es für europäische Start-ups, die sich in der Vergangenheit durch den Aufbau fokussierter, effizienter Lösungen ausgezeichnet haben, anstatt um jeden Preis nach Skalierung zu streben, Raum für strategische Akteure gibt, die ohne großen Kapitalaufwand gute Leistungen erbringen können. Vielleicht erlaubt uns dieser Wandel endlich, uns auf das zu konzentrieren, was wirklich wichtig ist: die Entwicklung praktischer KI-Systeme, die echte Unternehmensprobleme lösen und einen greifbaren Geschäftswert liefern, anstatt der nächsten viralen Verbraucher-App hinterherzujagen.
Also ja, wir haben vielleicht den Startschuss in Europa zunächst ein wenig verpennt. Und ja, vielleicht sind wir auch nicht direkt in die komplett richtige Richtung gelaufen. Aber wir sind ganz sicher nicht aus dem Rennen! Und das hat meiner Meinung nach nicht allein damit zu tun, dass DeepSeek plötzlich wie Kai aus der Kiste gesprungen kam.
Weitere Gründe, die uns in Europa hoffen lassen
Kompetenz und Talente
Europa verfügt über eine Fülle an Talenten – und ebenso über die Institutionen, um noch mehr davon hervorzubringen. Ob ETH Zürich, TUM, die Universitäten in Cambridge und Oxford oder Forschungseinrichtungen wie das Max-Planck-Institut und die Fraunhofer-Gesellschaft: Überall wird auf höchstem Niveau an künstlicher Intelligenz gearbeitet. Wir blicken nicht nur auf eine lange Geschichte bahnbrechender Innovationen zurück, sondern haben auch die Grundlagen geschaffen, um diese Tradition fortzuführen.
Industrieller Fokus
Europa – und selbst Deutschland – ist voller Weltmarktführer, die oft im Hintergrund agieren. Die machen nicht täglich Schlagzeilen, sind aber essenziell für die wirtschaftliche Stärke des Kontinents. Dasselbe Potenzial besteht im Bereich KI. Denn künstliche Intelligenz ist weit mehr als spektakuläre LLMs oder beeindruckende Bildgeneratoren. Gerade in der industriellen Anwendung schlummern noch gewaltige Innovationsmöglichkeiten, die es zu nutzen gilt.
Trustworthy AI
Datenschutz und Datensicherheit genießen in Europa einen hohen Stellenwert – und das ist mehr als nur ein Nice-to-have. Lösungen, die europäischen Standards entsprechen und hier gehostet werden, schaffen Vertrauen. Unternehmen wie Mistral oder Aleph Alpha setzen genau auf diesen Vorteil – und könnten sich damit langfristig im Wettbewerb behaupten.
Feature, nicht Bug: Regulierung
Regulierung wird oft als Innovationsbremse gesehen, doch sie kann auch ein Standortvorteil sein. Der EU AI Act, der nun in Kraft tritt, sorgt für mehr Sicherheit im Umgang mit KI. Emotionserkennung am Arbeitsplatz oder Social-Scoring nach chinesischem Vorbild sind in Europa schlicht nicht erlaubt. Während in den USA viele Regularien fallen, könnte sich die EU als sicherer KI-Hafen etablieren. Genau das macht sie für viele Unternehmen attraktiv.
Fazit
Eigentlich wollte ich Apple als weiteres Argument dafür anführen, dass Europa noch voll im Rennen ist. Schließlich hat Apple oft bewiesen, dass man nicht der Erste sein muss – sondern dass es reicht, spät auf den Markt zu kommen und dann alles umzukrempeln. Aber nach dem eher holprigen Start von Apple Intelligence spare ich mir dieses Argument an dieser Stelle lieber.
Trotzdem denke ich, dass ich genügend Gründe geliefert habe, um zu zeigen: Nichts ist entschieden, und Europa ist keineswegs abgehängt. Klar, es wird nicht leicht. Wir brauchen kluge und vor allem schnelle Entscheidungen. Aber in Zeiten wie diesen lohnt es sich, kurz innezuhalten, einen Schritt zurückzutreten und das Gesamtbild zu betrachten. Denn manchmal entdeckt man genau dann Chancen, die im politischen Chaos, im Social-Media-Lärm und in der eigenen Frustration völlig untergehen.
Zumindest geht es mir oft so. Und genau deshalb habe ich diesen Schritt zurückgemacht – und festgestellt: Ja, Europa ist chaotisch, angeschlagen und oft schwerfällig. Aber mit über 400 Millionen Menschen, einer gewaltigen Menge an Talent und Know-how, einem starken Fokus auf Sicherheit und einer Vielzahl an Menschen, die anpacken wollen, kann ich nur zu einem Schluss kommen: In diesem KI-Rennen ist Europa noch lange nicht abgeschlagen.