Die meisten Wearables ignorieren nach wie vor die speziellen Gesundheitsbedürfnisse von Frauen – obwohl die Hälfte der Weltbevölkerung weiblich ist. Nur 6 Prozent der sportwissenschaftlichen Studien beziehen sich explizit auf Frauen, und die Forschung rund um Schwangerschaft ist oft so begrenzt, dass daraus übervorsichtige Empfehlungen entstehen, die mehr schaden als nützen können.
Frauen nicht nur in Technikwelt unterrepräsentiert
Ein Beispiel: In Deutschland leidet fast jede vierte Frau über 50 (22,6 Prozent) an Osteoporose – das Risiko für Knochenbrüche nach der Menopause steigt damit deutlich. Auch ein frühzeitiges Einsetzen der Menopause erhöht das Risiko für Typ-2-Diabetes um bis zu 32 Prozent. Rund zwei Drittel aller Alzheimer-Erkrankten sind Frauen – hormonelle Veränderungen während der Wechseljahre könnten dabei eine entscheidende Rolle spielen. Trotzdem werden solche Probleme im Gesundheitswesen oft als unvermeidlich statt als vermeidbar betrachtet – obwohl fast zwei Drittel der Frauen zwischen 45 und 60 Jahren in Deutschland angeben, dass ihre Lebensqualität durch Wechseljahresbeschwerden spürbar sinkt.
Im Gespräch mit Emily Capodilupo von Whoop wurde mir klar: Wir geben uns mit zu wenig zufrieden. Einfaches Zyklustracking ist zwar hilfreich, doch echte Innovation bedeutet, zu verstehen, wie sich unser Zyklus auf Schlaf, Fitness und allgemeine Gesundheit auswirkt.
Wearables, die wirklich auf Frauen zugeschnitten sind, könnten das Gesundheits- und Fitnessverständnis durch personalisierte Einblicke auf Basis kontinuierlicher Datenerfassung revolutionieren. Stell dir vor, dein Arzt oder deine Ärztin fragt nicht nur nach dem Datum deiner letzten Periode, sondern hat detaillierte Infos über die täglichen Bedürfnisse deines Körpers. Diese Daten existieren übrigens schon – gesammelt durch Smartwatches, Fitness-Tracker oder smarte Ringe.
Es ist höchste Zeit, dass Frauengesundheit in der Welt der Wearables zur Priorität wird – unsere Gesundheit hängt davon ab. Wer überlegt, sich ein neues Wearable zuzulegen, sollte vorher unser Interview lesen. Kleiner Spoiler: Wenn das Gerät deinen Zyklus nicht trackt, liefert es dir nicht das ganze Bild.
Warum der Menstruationszyklus ein entscheidender Vitalwert ist
inside digital: Lass uns direkt ins Thema einsteigen. Basierend auf deiner Forschung und deiner Arbeit bei Whoop – warum sollte die Branche Funktionen wie Zyklustracking standardmäßig in Wearables integrieren? Was sind die wichtigsten Gründe?
Emily Capodilupo: Der Menstruationszyklus ist einer der wichtigsten Vitalwerte – aber er wird seit jeher wie ein Tabuthema behandelt, als etwas „Unreines“, worüber man nicht spricht oder das man nicht einmal erfasst. Die Folge: Die meisten menstruierenden Menschen wissen gar nicht, was normal ist – und ihre Ärzt:innen auch nicht.
Dabei steckt im Zyklus eine Fülle an Informationen: Ob er schmerzhaft ist, wie lang oder regelmäßig – all das spiegelt die allgemeine Gesundheit wider. Doch anstatt gezielte Fragen zu stellen, etwa zur Regelmäßigkeit oder zu möglichen Beschwerden, fragen viele Ärzt:innen einfach nur nach dem Datum der letzten Periode. Das sagt allein kaum etwas aus.
Auch bei Wearables spielt der Zyklus eine wichtige Rolle, denn je nach Phase befinden wir uns in unterschiedlichen hormonellen Zuständen. In der Follikelphase sind die Hormonspiegel niedriger, der Körper verhält sich eher wie der eines Mannes – man kann leichter Muskeln aufbauen, härter trainieren und Kohlenhydrate besser verwerten. In der Lutealphase hingegen bereitet sich der Körper auf eine mögliche Schwangerschaft vor: Er spart Energie, die Körpertemperatur steigt, und statt Muskeln aufzubauen, will er eher Fett speichern.
Wenn Wearables das nicht berücksichtigen, liefern sie im Grunde falsche Empfehlungen – für die Hälfte ihrer Nutzer:innen.
inside digital: Genau! Es frustriert mich jedes Mal, wenn ich ein brandneues Wearable teste – mit erstklassiger Hardware und tollen Features – aber ohne Zyklustracking. Und dann sieht man in der Werbung überall Frauen. Ist das nicht eine riesige Lücke?
Emily Capodilupo: Absolut. Viele Unternehmen denken, „für Frauen“ heißt: Man bietet das Gerät in Roségold an. Auch wir haben Gegenwind bekommen. Zum Beispiel empfiehlt unser Schlaf-Coach in der Lutealphase mehr Schlaf – was wissenschaftlich absolut korrekt ist. Manche Nutzer:innen fanden das aber demotivierend, weil sie dadurch keinen hohen Schlafscore erreichen konnten.
Aber Realität ist wichtiger als Einfachheit. Wir könnten dich schmeicheln oder dir die Wahrheit sagen – und dir wirklich helfen, erholt zu sein.
inside digital: Ich habe das persönlich beim Intervallfasten erlebt. Meine männlichen Freunde kamen super damit klar – ich nicht. Dann habe ich Fast Like a Girl gelesen und gelernt, mein Fasten an den Zyklus anzupassen – das hat alles verändert. Fehlt es hier nicht vor allem an Wissen? Wie geht Whoop damit um?
Emily Capodilupo: Das ist eine so typische Geschichte. Bei Whoop haben wir eine Forschungskultur aufgebaut, die von Frauen geleitet wird. Ich habe die Forschungsabteilung gegründet. Unsere leitende Datenwissenschaftlerin und die Chefin unseres klinischen Labors sind ebenfalls Frauen. Und wir haben es zur Richtlinie gemacht: Unser Whoop Lab muss Geschlechterparität unter den Testpersonen erreichen.
Wir arbeiten schon seit Jahren eng mit Dr. Stacy Sims zusammen. Als wir zum Beispiel Muster erkannt haben – wie etwa, dass Frauen während der Menstruation besonders gute Erholungswerte bekommen – haben wir tiefer gegraben und schließlich Studien dazu veröffentlicht.
Und jedes Feature, das wir veröffentlichen, muss durch einen internen „OK to ship“-Prozess. Dazu gehört auch ein Zyklus-Sensitivitäts-Check – je nach Geschlecht und Alter. So ernst nehmen wir das.
Wie Wearables die Forschung zur Frauengesundheit verbessern könnten
inside digital: Das ist beeindruckend. Ich habe auch gehört, dass du einmal gesagt hast, Wearables würden neue Chancen für mehr Gleichberechtigung in der Forschung schaffen. Was genau meinst du damit?
Emily Capodilupo: Klar. Bevor ich zu Whoop kam, habe ich am Brigham and Women’s Hospital Schlafforschung betrieben. Wir waren damals stolz darauf, eine Studie mit 30 Teilnehmenden durchzuführen – das galt schon als große Stichprobe!
Bei Whoop erfassen wir jede Nacht Millionen von Schlafdaten. Das verändert alles – nicht nur in Bezug auf die Menge, sondern auch auf die Vielfalt. In der klassischen Forschung werden Frauen, People of Color oder Schwangere oft ausgeschlossen – sei es unbeabsichtigt, aufgrund systemischer Vorurteile oder ganz praktischer Hürden.
Mit Wearables kann im Grunde jede:r teilnehmen – man muss das Gerät nur tragen. Und wir sehen zum Beispiel, dass Effekte des Zyklus, die in kleinen Studien kaum sichtbar wären, bei 15.000 getrackten Zyklen plötzlich ganz klar werden. Die Trends springen einem förmlich ins Auge.
Warum Zyklustracking in deinem Wearable entscheidend ist
inside digital: Ja – und man verhindert damit, dass sich historische Verzerrungen in der Forschung einfach fortsetzen. Aber aus Nutzer:innenperspektive: Wenn jemand menstruiert und sich ein Wearable ohne Zyklustracking zulegt – was verpasst man da eigentlich?
Emily Capodilupo: Im Grunde alles. Das Tragische ist: Die meisten wissen nicht einmal, dass ihnen etwas fehlt. Wir sind so daran gewöhnt, dass es „normal“ ist, sich jeden Monat ein paar Tage aufgebläht, müde oder energielos zu fühlen. Aber das muss nicht so sein.
Wenn man seinen Zyklus trackt – selbst nur auf Papier – kann man Training, Schlaf, Ernährung und Flüssigkeitszufuhr gezielt anpassen. Und plötzlich fühlt man sich jeden Tag gut. Es geht dabei nicht um Verzicht. Oft reichen einfache Anpassungen: mehr Salz in der Lutealphase, mehr Kohlenhydrate in der Follikelphase. Das kann einen riesigen Unterschied machen.
Außerdem sind unregelmäßige Zyklen ein Warnsignal. Sie können auf Probleme mit der Schilddrüse, Eisenmangel oder hormonelle Dysbalancen hinweisen. Viele merken das aber erst, wenn sie versuchen, schwanger zu werden – und es nicht klappt.
inside digital: Absolut. Für mich ist Zyklustracking inzwischen unverzichtbar. Wir sind fast am Ende – kannst du schon etwas verraten, woran ihr bei Whoop aktuell arbeitet?
Emily Capodilupo: Ich würde so gern mehr erzählen! Was ich sagen kann: Wir arbeiten an expliziten Features für Frauengesundheit – aber auch an subtileren Integrationen, bei denen Zyklusbewusstsein in allgemeine Empfehlungen zu Training, Schlaf und Erholung einfließt.
Wir sehen Frauengesundheit nicht als Extra-Feature auf einem Nebendisplay. Bei uns ist das Thema tief in die Nutzererfahrung integriert. Und genau das unterscheidet Whoop – wir behandeln Frauen nicht als Sonderfall.
inside digital: Das ist wirklich bemerkenswert. Und selten. Man merkt: Ihr verändert mehr als nur ein Produkt – ihr verändert die Kultur.
Emily Capodilupo: Danke dir. Und ein großes Lob auch an unseren CEO Will [Ahmed]. Diese Arbeit zu unterstützen bedeutet: längere Entwicklungszeiten und höhere Forschungskosten. Aber es lohnt sich. Selbst die FDA (die US-Arzneimittelbehörde) hat es bis 1993 erlaubt, Frauen wegen „Zykluskomplexität“ aus Studien auszuschließen. Und noch immer herrscht in vielen klinischen Studien keine Geschlechterparität. Für Männer zu entwickeln ist oft einfacher – aber genau das machen wir bei Whoop nicht.
inside digital: Vielen Dank!
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Hinweis der Redaktion: Eine frühere Version dieses Interviews erschien bereits bei unserem Schwestermagazin nextpit.de – dort mit einem stärkeren analytischen Fokus.