Schicksalsmonate für Nokia: Das Lumia 900 ist der bisher engagierteste Versuch des einstigen Platzhirsches unter den Handybauern, Marktanteile von Apple und vor allem dem Android-Lager rund um Samsung zurückzuerobern. Viel hängt dabei von der risikoreichen Allianz mit Microsoft und dessen Betriebssystem Windows Phone ab. Daher geht es beim Lumia 900 nicht nur um die Frage, ob das Smartphone für derzeit knapp 460 Euro technisch der Konkurrenz in der Oberklasse gewachsen ist, sondern auch wie es um die Zukunft der Software bestellt ist. Ob das Lumia 900 als Alternative taugt, verrät der Test auf inside-digital.de.
Der Blick in den standesgemäß wertig gestalteten Karton bietet fast keine Überraschungen. Neben dem Nokia Lumia 900 findet sich ein USB-Kabel samt Ladeadapter für die Stromversorgung. Letzterer ist recht kompakt geraten und kommt an einer Mehrfachsteckdose anderen Geräten nicht in die Quere. Das im Lieferumfang enthaltene Headset wirkt solide, sitzt gut im Ohr und gibt sich auch beim Klang keine Blöße. Ungewöhnlich ist lediglich das ebenfalls beiliegende kleine Metallplättchen mit einer feinen Spitze. Dieses dient als Schlüssel für den Schacht mit der SIM-Karten-Halterung.
Das Nokia Lumia 900 liegt wuchtig in der Hand, ohne dabei plump zu wirken. Mit Abmessungen von 127.8 × 68.5 × 11.5 mmlässt sich das Smartphone von Usern mit kleineren Händen gerade noch gut bedienen. Da sich Nokia gegen einen wechselbaren Akku entschieden hat, ist der Body des Lumia 900 aus einem Stück gefertigt. Zum Einsatz kommt hier Kunststoff, der angenehm in der Hand liegt. Dafür sorgt zum Teil auch die die leichte Wölbung an den Seiten, womit das Lumia 900 etwas schlanker wirkt als es tatsächlich ist. An der Kopfseite befinden sich die Anschlüsse für den 3,5-mm-Audioanschluss und der nicht abgedeckte Micro-USB-Port.
Etwas ungewohnt ist die Tastenbelegung an der rechten Gehäuseseite. Neben der Wippe für die Regelung der Lautstärke ist hier der EIN/AUS-Schalter mittig platziert. Gerade bei Linkshändern fürchtet man zunächst um versehentliche Aktivierungen des Standby-Modus. Durch den klaren und recht tiefen Druckpunkt dürfte es dazu im Alltag aber eher selten kommen. Praktisch: Eine dritte Taste ist exklusiv für die Kamera reserviert. Ein Druck startet sofort die Foto-App und holt das Gerät dazu falls nötig gleichzeitig aus dem Standby.
Mit 1,3 W/kg ist der SAR-Wert des Nokia Lumia 900 vergleichsweise hoch. Als Grenze für die Vergabe des Umweltsiegels „Blauer Engel“ gilt ein Wert von 0,6 W/kg. Der von der WHO empfohlene Maximalwert liegt bei maximal zwei Watt pro Kilogramm.
Für gelegentliche Schnappschüsse eignet sich die Kamera des Lumia 900 dank der Auflösung von acht Megaxipeln gut. Die Rückseite des Smartphones wirbt im Bereich der Linse mit der Qualität von Carl Zeiss Tessar, wobei das Smartphone nicht wirklich als Ersatz für eine richtige Kamera taugt. Wie auch bei vielen Mitbewerbern ist die Qualität der Aufnahmen umso besser, je heller die Umgebung ist. In Innenräumen und in den Abendstunden zeigt sich trotz doppeltem LED-Blitz ein deutlich wahrnehmbares Bildrauschen. Die Bedienung der anständigen Kamera-App wird durch den Auslöser in Form einer separaten Hardware-Taste an der Gehäuseseite noch einmal deutlich bequemer, allerdings nimmt sich die Kamera bis zum Auslösen relativ viel Zeit. Auf den Autofokus und die Einstellungen der Automatik ist in der Regel Verlass.
- Weißabgleich
- Belichtungswert
- ISO
- Messmodus
- Effekte
- Kontrast
- Sättigung
- Fokus
- Flimmerreduktion
- Szenen (Kerzenlicht, Nachtaufnahme, Nahaufnahme, Panorama, Porträt, Sonnenuntergang, Schnee, Sport, Strannd)
Videos nimmt das Lumia 900 im 720pFormat (1280 × 720 Pixel) bei 30 Bildern pro Sekunde auf. Hier zeigt sich die schon bei den Fotos beobachtete Anfälligkeit bei nicht optimalen Lichtverhältnissen. Dunklere Bereiche zeigen ein recht starkes Bildrauschen. Zusätzlich zur rückseitigen Kamera hat Nokia bei seinem Top-Modell noch eine Frontkamera mit einer Auflösung von einem Megapixel verbaut. Das reicht für die gelegentliche Videotelefonie über die schon vorinstallierte Software "Tango".
Nokia setzt beim Lumia 900 mangels Alternativen auf Windows Phone 7.5 (Refresh). Eine Individualisierung der Oberfläche gesteht Microsoft seinen Partnern nicht zu, entsprechend bleibt Nokia nur das eigene Softwarepaket, um sich von der Konkurrenz abzusetzen. Die Einrichtung des Smartphones gelingt über die hilfreichen Assistenten in wenigen Minuten. Für den Zugriff auf den Marketplace und einige weitere Funktionen ist ein kostenloser Microsoft Live-ID-Account notwendig. Kontakte lassen sich allerdings auch aus Outlook und Gmail importieren.
Die Oberfläche von Windows Phone besteht im Kern aus einem einzigen Homescreen und einer zusätzlichen Listenansicht. Apps und Telefonfunktionen sind in Form von frei platzierbaren Kacheln angeordnet. Auf diesen werden dann auch Zusatzinformationen wie die Anzahl der verpassten Anrufe und eingegangenen Mails angezeigt. Ein Problem ist die aktuelle Beschränkung auf zwei Kachelgrößen, worunter die Übersicht etwas leidet. Auf dem Display finden lediglich acht Kacheln Platz, danach ist Fingereinsatz zum Scrollen gefragt. Hier wird bei manchen Apps auf jeden Fall Platz verschenkt. Abhilfe soll das angekündigte Update auf Windows Phone 7.8 schaffen, mit dem eine neue kleinere Kachelform Einzug in Microsofts Betriebssystem Einzug hält.
Verzichtet wurde auch auf eine Benachrichtigungs-LED, ebenso gibt es keine Notification Bar. Stattdessen werden auf dem Sperrbildschirm neben der Uhrzeit die entgangenen Anrufe und Nachrichten aufgezählt. Ebenso laufen hier Hinweise zu Terminen und Kontakten, wie etwa kommende Geburtstage ein. Es bleibt allerdings beim Hinweis, die jeweiligen Funktionen und Kontakte direkt über den Speerbildschirm anzuwählen ist nicht möglich.
Farblich gibt sich Windows Phone 7.5 recht bieder. Außer einem individuellen Bildmotiv für den Sperrbildschirm gibt es unter „Design“ nur zwei wesentliche Einstellungen: Als Hintergrund gibt es die Optionen Schwarz oder Weiß, kombiniert mit einem guten Dutzend Standardfarben für die Kacheln. Mit dunklem Hintergrund sieht die Oberfläche des Lumia 900 zwar schicker aus, dafür sind einige Inhalte nur noch schwer lesbar. Der vorinstallierte Client für Facebook zeigt dann beispielsweise Statusmeldungen von Freunden in kleiner weißer Schrift auf schwarzem Grund.
Ansonsten kann man Windows Phone wenig vorwerfen. Durch die engen Vorgaben bei der Hardware wirkt das OS optimal auf die technische Basis angepasst. Die Bedienung geht flüssig von der Hand und besonders User ohne große Smartphone-Erfahrung haben durch die großen Schriften und die klare Struktur einen einfachen Einstieg. Dazu passt die Tastatur mit guter Haptik, einem durchdachten Layout und einer brauchbaren Worterkennung.
Ebenso wirken die Kerndaten der verbauten Hardware auf den ersten Blick wenig beeindruckend: Einer Single-Core-CPU mit 1,4 GHz Takt stehen 512 MB Arbeitsspeicher zur Seite. Im Sunspider Benchmark kommt das Lumia 900 damit auf einen Wert von 6.872.3 m/s, der Browsermark vergibt 25.734 Punkte an das Gerät von Nokia. Beide Werte liegen jeweils um den Faktor drei unter denen des iPhone 4S, das Samsung Galaxy S3 ist noch einmal ein ganzes Stück schneller. Plattformübergreifende Benchmarks sind in der Praxis allerdings kaum relevant. Am Ende zählt, ob die Hardware für das jeweilige Betriebssystem genug Leistung liefert und hier punktet das Lumia 900 besser als so mach üppiger ausgestattetes Smartphone unter Android.
Im Kampf der mobilen Browser schickt Nokia Microsofts Internet Explorer 9 ins Rennen. Wie die Konkurrenz schließt auch dieser den Acid3-Test mit der Maximalpunktzahl 100 ab. Seitenaufrufe über das Mobilfunknetz setzt das Lumia recht gemütlich um. Bis zum vollständigen Laden von inside-digital.de vergehen via UMTS knapp 16 Sekunden. Bei aktiver WLAN-Verbindung sinkt dieser Wert auf etwa 12 Sekunden, das Samsung Galaxy S3 und das iPhone 4S schaffen die Übung in circa zehn Sekunden.
Nokia stattet seine Smartphones mit einer ganzen Reihe von exklusiven Features aus. Dazu gehört unter anderem ein Dienst zur Anzeige von Verbindungen im lokalen Nahverkehr. Hier setzt Bus & Bahn allerdings wie einige Apps für Android und iOS auf die frei zugänglichen Schnittstellen der jeweiligen Verkehrsbetriebe. In Gebieten, in denen ein solcher Service von den Betreibern nicht angeboten wird, funktioniert der Dienst also nicht. Sehr praktisch ist außerdem die mobile Version des Microsoft Office mit allen wichtigen Optionen und der Möglichkeit zum Erstellen und Bearbeiten von Dokumenten in den Formaten Word und Excel.
Dazu gibt es einen Shop für E-Books und einen eigenen Kartendienst. Letzterer zeigt Straßennamen und Einbahnstraßen sicher an und bringt den gewünschten Kartenausschnitt schnell auf den Bildschirm. Dafür fallen recht bald die fehlenden Zusatzfeatures von Google Maps auf. Letztendlich hat man aber die Wahl, ob man lieber auf Nokias Entwurf, Microsofts Bing Maps oder eben das Angebot von Google (gMaps im Marketplace) setzen möchte.
Nokias Navigation hat den Vorteil, von Haus aus auf den Offline-Betrieb ausgerichtet zu sein. Man lädt einfach bei der Einrichtung das relevante Kartenmaterial herunter. In Deutschland gibt es dazu separate Karten für jedes einzelne Bundesland. Im Test brachte uns das Navi sicher ans Ziel, auf Wunsch erfolgt beim Überschreiten der erlaubten Höchstgeschwindigkeit eine Warnung. Lediglich die Streckenführung bei einem verpassten Wegpunkt könnte besser sein. Nokias Navi forderte im Stadtverkehr noch mehrere Minuten zum Wenden auf, um uns zu einer Kreuzung des zuvor berechneten Weges zurückzuschicken. In der Zwischenzeit wäre eine andere Route allerdings schon deutlich günstiger gewesen.
Ein letztes, aber dafür echtes Highlight verbirgt sich hinter dem unscheinbaren Titel Nokia Musik. Neben den guten Verwaltungsfunktionen und der Player-Software zum Abspielen der eigenen Sammlung hat das Lumia 900 mit Mix Radio einen integrierten Streaming Dienst. Über diesen kommen aus dem Netz alle aktuellen Charts in guter Qualität auf das eigene Handy. Zur Auswahl stehen unter anderem die aktuellen Single Charts aus vielen europäischen Ländern, Australien, den USA und China. Dazu gibt es Special Interest Kanäle von Pop bis Klassik und sogar einen eigenen speziell für deutsche Interpreten. Einzig eine Suche nach bestimmten Songs fehlt. Neue Lieblingsstücke landen mit einem Klick über das heimische WLAN auf dem Smartphone und stehen dann auch unterwegs zur Verfügung, ohne dabei die Datenflatrate zu belasten.
Das Nokia Lumia 900 ist ein sehr ordentliches Smartphone. Windows Phone 7.5 harmoniert problemlos mit einer Hardware-Ausstattung, die unter Android nicht für einen Platz in der Oberklasse reichen würde. Anwendungen und Wechsel zwischen den Menüs gelingen stets ohne den kleinsten Ansatz einen Ruckelns. Auch die vergleichsweise geringe Auflösung des Displays macht sich im Alltag kaum bemerkbar, zumal es im Betrieb fast überhaupt nicht spiegelt. Die Kombination aus von Nokia in Eigenregie entwickelten Apps und dem angeschlossenen Marketplace bietet für die meisten Anforderungen die passende Lösung. Letztendlich trägt das Lumia 900 nur einen Geburtsfehler in sich: Es wurde noch unter den Microsofts Hardware-Vorgaben für Windows Phone 7.5 konstruiert. Wenn Microsoft schon im kommenden Herbst mit Windows Phone 8 zum großen Versionssprung ansetzt, ist ein Update für Besitzer des Lumia 900 technisch nicht möglich. Somit steht Nokias Flaggschiff zwischen allen Stühlen. Für ein Smartphone der Spitzenklasse fehlt selbst die mittelfristige Zukunftssicherheit, für ein Auslaufmodell ist es hingegen (noch) schlicht zu teuer.
Pro
- Gute Laufzeit
- Flüssige Bedienung
- Nokia Apps (Navigation, Musikstreaming)
- Sehr gute Verarbeitung
Contra
- Kein Upgrade auf Windows Phone 8
- Durchschnittliche Display- und Video-Auflösung
- Kein Slot für Speicherkarten
- Fest verbauter Akku