Um es klar vorwegzuschicken: Ich hatte Vorbehalte! Als der Polestar 4 vorgestellt wurde, habe ich mich (sicher nicht allein) gefragt, wie man auf die vermeintlich absurde Idee kommen kann, ein E-Auto ohne Heckscheibe zu bauen. Die freie Sicht nach hinten derart rigoros zu unterbinden – mindestens mutig! Heute muss ich einräumen: Es mag tatsächlich ein mutiger Schritt von Polestar gewesen sein. Es war aber auch ein smarter. Denn nach einem ausführlichen Test quer durch Südbayern steht fest: Auf die Heckscheibe kann man verzichten – ohne Wenn und Aber.
Polestar 4: Digitaler Rückspiegel statt Heckscheibe
Wer zum ersten Mal im Polestar 4 Platz nimmt, wird diese Einschätzung vermutlich nicht sofort nachvollziehen können. Denn im Innenraum begrüßt Passagiere nicht ein klassischer Rückspiegel, sondern eine digitale Ausführung dessen. Ein 8,9 Zoll großes Display also, das das Geschehen hinter dem Heck des E-Autos über eine auf dem Dach verbaute HD-Kamera von Gentex einfängt und für den Fahrer als Video mit einer Auflösung von 1.480 x 320 Pixeln in den Innenraum überträgt. Das ist in den ersten Minuten gewöhnungsbedürftig. Die Augen müssen sich zunächst daran gewöhnen, nicht in einen klassischen Spiegel zu schauen.
Doch haben sich Augen und Gehirn nach einer gewissen Zeit auf die andersartige Sicht nach hinten eingestellt, bietet der digitale Rückspiegel echte Vorteile. Insbesondere das breitere Sichtfeld ist von Nutzen. Und auch bei Nacht und Regen offenbart ein Kamerabild echte Stärken; auch wenn andere Verkehrsteilnehmer über das übertragene Videobild näher am Auto erscheinen, als sie es tatsächlich sind. Die klare Botschaft an dieser Stelle lautet: unbedingt ausprobieren. Und zwar nach Möglichkeit für einen längeren Zeitraum.
Wichtig übrigens auch: Vorübergehend lässt sich der Video-Rückspiegel auch deaktivieren. Wie bei einem klassischen Rückspiegel einfach den entsprechenden Hebel umlegen, um einen direkten Blick auf die Rückbank und die dort sitzenden Mitreisenden zu erhalten.
Neuer E-Flitzer von Polestar in zwei Versionen erhältlich
Wer sich für den Polestar 4 interessiert, kann das vollständig elektrifizierte und 4,84 Meter lange SUV-Coupé gegenwärtig in zwei Varianten kaufen. Das Modell mit Heckantrieb (Long Range Single Motor) bietet 200 kW (272 PS) Leistung, das Allrad-Modell (Long Range Dual Motor) mit 400 kW (544 PS) doppelt so viel Leistung. Während die Ausführung mit Heckantrieb von 0 auf 100 km/h in 7,1 Sekunden spurten kann, sind es bei der Allrad-Variante nach Angaben des Herstellers spürbar flottere 3,8 Sekunden. In der Spitze lässt sich der Polestar 4 auf bis zu 200 km/h beschleunigen.
Die WLTP-Reichweite gibt Polestar beim Single-Motor-Modell mit bis zu 620 Kilometern an, beim Dual-Motor-Modell sind bis zu 590 Kilometer drin. Auf der Autobahn-Langstrecke dürften es aber eher zwischen 450 und 500 Kilometer sein. Ein ausführlicher Verbrauchs-Check war im Rahmen unseres Tests nicht möglich, trotzdem konnten wir im Voralpenland rund um Garmisch-Partenkirchen einige Verbrauchsdaten dokumentieren.
Auf Landstraßen lag der durchschnittliche Verbrauch bei rund 14 Kilowattstunden (kWh) pro 100 Kilometer. Deutlich mehr Strom schluckt der Polestar 4 auf der Autobahn. Mit einem Verbrauch von knapp 24 kWh/100 km erweist sich das Auto trotz seiner aerodynamischen Form nicht gerade als Stromsparwunder. Kein Wunder, bringt das E-Auto doch rund 2,3 Tonnen auf die Waage. Umso wichtiger, dass trotz 400-Volt-System ein schnelles Aufladen des 100 kWh großen Akkus möglich ist. Unter optimalen Bedingungen stellt Polestar eine DC-Ladeleistung von 200 kW in Aussicht. Eine Wärmepumpe ist serienmäßig an Bord.
An Normalladesäulen und an der heimischen Wallbox sind bis zu 11 kW möglich. Wer sich für das Plus-Paket entscheidet (+5.500 Euro), kann über den Ladeanschluss hinten links sogar mit bis zu 22 kW Strom nachladen. Ein echter Mehrwert gegenüber dem Polestar 3 (Test), dem dieses Plus an AC-Ladeleistung fehlt. Mit Plus-Paket sind unter anderem auch ein Premium-Soundsystem von Harman Kardon, Pixel-LED-Scheinwerfer, eine 3-Zonen-Klimatisierung (statt 2-Zonen) und ein praktisches Head-up-Display Teil der Ausstattung.
Bedienung nicht immer einfach
Ohne Plus-Paket muss ein 10,2 Zoll großes Fahrer-Display (1.920 x 532 Pixel) hinter dem Lenkrad reichen, um alle wichtigen Fahrinformationen wahrzunehmen. Ergänzend dazu besteht Zugriff auf ein 15,4 Zoll großes Center-Display (1.920 x 1.200 Pixel) an der Mittelkonsole, das – für Polestar neu – in horizontaler Ausrichtung für die Bedienung praktisch aller Funktonen genutzt wird.
Ergänzend dazu lassen sich einzelne Funktionen auch über das Multifunktionslenkrad steuern. Hier lässt sich auch mit nur zwei Tastendrückern das Gebimmel bei Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit deaktivieren. Aber nur bis zum nächsten Motorstart. Die EU will es so. Der Sicherheit wegen. Es bedarf aber generell einer gewissen Eingewöhnungszeit, die Sensortasten am Lenkrad so zu steuern, wie es das Entertainmentsystem des Autos auf Basis von Android Automotive vom Fahrer erwartet. Überhaupt bietet das Entertainmentsystem enorm viele Einstellungsmöglichkeiten. Technisch versierte Menschen werden das lieben. Herausfordernd ist es stellenweise trotzdem.
Android als Betriebssystem wiederum hat den großen Vorteil, dass du Funktionen, die du vielleicht schon von deinem Notebook oder Smartphone kennst, auch im Auto nutzen kannst. Etwa den Google Assistant für Sprachbefehle oder auch – besonders praktisch – das Kartenmaterial von Google Maps für die Navigation. Der Polestar 4 berücksichtigt nicht nur Ladestopps, sondern berechnet auch ziemlich genau, mit welcher Akku-Restkapazität du dein gewünschtes Ziel erreichen kannst.
Viel Platz im Innenraum
Ein echter Mehrwert im Polestar 4 ist das gewaltige Platzangebot. Dank drei Metern Radstand haben nicht nur Fahrer und Beifahrer viel Platz, sondern auch Personen, die im Fond des E-Autos Platz nehmen. Knie der Passagiere in der zweiten Sitzreihe stoßen selbst dann nicht an die Vordersitze, wenn Fahrer und/oder Beifahrer mit ihren Sitzen ganz nach hinten rücken. Das ist stark! Gleiches gilt für die stattliche Kopffreiheit.
Der Kofferraum bietet ein Ladevolumen von bis zu 526 Litern; inklusive zusätzlichem Stauraum unter dem Laderaumboden. Klappt man die Rücksitze um, wächst der Platz unter der wuchtigen, elektrischen Soft-Close-Heckklappe laut Hersteller auf bis zu 1.536 Liter. Ähnlich viel passt in den Kofferraum des Volkswagen ID.7 Pro (Test) oder auch des Hyundai IONIQ 5 (Test). Unter der Motorhaube bietet Polestar in einem Frunk weitere 15 Liter Stauraum. Schönheitsfehler: Die Frunk-Abdeckung steht nicht von allein, muss immer mit einer Hand festgehalten werden.
Interieur top, Windgeräusche ein Ärgernis
Dass das Interieur des Polestar 4 ansonsten von einem minimalistisch anmutenden, typisch skandinavischen Design dominiert wird, weiß zu gefallen. Dadurch ist an der Mittelkonsole nur eine Drehtaste für die Mediensteuerung zu finden. Ein Handschuhfach ist vorhanden, aber nur über den Touchscreen zu öffnen. Schließen muss man es wiederum manuell per Hand. Die Gänge werden über einen Gangwahlhebel hinter dem Lenkrad eingelegt.
Was gar nicht gefällt: In unserem Testwagen waren während der Fahrt deutliche Windgeräusche auszumachen. Und zwar schon ab knapp 100 km/h. Das liegt nicht etwa an Verwirbelungen rund um die Außenspiegel, sondern an den rahmenlosen Türen, wie uns Polestars Technikchef Lutz Stiegler auf Nachfrage erklärte. Verbesserungswürdig ist zudem die Verkehrszeichenerkennung, die nicht immer das anzeigt, was den Verkehrsschildern am Straßenrand tatsächlich abzulesen ist. Vielleicht kann Polestar hier per Softwareupdate noch nachjustieren.
Wiederum erfreulich: Komfortables One-Pedal-Fahren ist möglich! Insbesondere in der Stadt ist das angenehm. Das Fahrzeug verzögert dann recht stark, wenn der Fuß vom Strompedal genommen wird und kommt mit etwas Übung etwa vor einem Stoppschild rechtzeitig zum Stehen, ohne dass die Bremse getreten werden muss. Dafür lässt sich die Stärke der Rekuperation nicht über Schaltwippen hinter dem Lenkrad einstellen. Über eine Schnellzugriffstaste ist aber das zweistufige Feintuning der Energierückgewinnung möglich.
Was kostet der Polestar 4?
Und der Preis? Im Vergleich zum Polestar 3 ist der Polestar 4 fast schon ein Schnäppchen. Er steht in der Single-Motor-Variante ab 57.900 Euro zur Verfügung. Wer sich für das Dual-Motor-Modell mit Allradantrieb entscheidet, muss mindestens 65.900 Euro einkalkulieren. Sechs Lackierungen stehen zur Wahl, nur "Magnesium" ist mit keinem Aufpreis verbunden. Ansonsten werden bis zu 1.600 Euro zusätzlich fällig.
Im Zusammenspiel mit dem Plus-Paket ist auch ein Panorama-Glasdach zu haben. Es kostet 1.900 Euro extra. Wenn du dich für das Pilot-Paket entscheidest (+1.500 Euro) erhältst du neben einem bis 130 km/h verfügbaren Pilot Assist auch einen Spurwechselassistenten. Mit Pro-Paket (+2.000 Euro) gibt es unter anderem hochwertigere 21-Zoll- statt 20-Zoll-Felgen und mit Performance-Paket (+4.500 Euro) gibt es neben 22-Zoll-Felgen, ein sportlicheres Fahrwerk und gelb lackierte Bremssättel für ein besonders sportliches Design.
Noch bis zum 15. November 2024 ist es im Rahmen der Polestar Launch Weeks möglich, eine Prämie in Höhe von 4.000 Euro anzustauben, wenn man sich für einen Barkauf des Polestar 4 entscheidet.
Fazit zum Polestar 4: Fehlende Heckscheibe ist kein Problem
Eine fehlende Heckscheibe in einem Elektroauto? Das kann doch nicht funktionieren, möchte man meinen. Doch, kann es! Und der neue Polestar 4 beweist das recht eindrucksvoll. Auch wenn sich Auge und Gehirn zunächst an den Video-Rückspiegel im Interieur gewöhnen müssen, schon nach etwa zwei Stunden Fahrt war es für mich im Test überhaupt kein Problem mehr, das SUV mit Genen eines Sport-Coupés so zu fahren, wie jedes gewöhnliche Fahrzeug.
Und wenn es dann auch noch so viel Fahrspaß bereitet, ein Auto über die Straßen zu scheuchen, wie es beim Polestar 4 der Fall ist, möchte man den Entwicklern von Polestar am liebsten zurufen: Bra gjort! Gut gemacht! Klar, auch dieses Elektroauto ist mit einem Basispreis von mindestens knapp 58.000 Euro (oder monatlich mindestens 599 Euro im Leasing) kein Schnäppchen. Aber es ist gut investiertes Geld. Denn das Gesamtpaket ist absolut stimmig und dürfte so manchen Autofan begeistern. An das vielschichtige Entertainmentsystem und die etwas komplizierte Bedienung über das Lenkrad muss man sich aber gewöhnen.